Wie man EFT benutzt, um zu vergeben: Die 1%-Lösung
Ich kann gar nicht sagen, wie oft mir schon Menschen erzählt haben, dass sie einem anderen Menschen einfach nicht vergeben können, wenn dieser andere Mensch ihnen etwas angetan hat – nicht einmal mit EFT. Sie haben das Gefühl, nur die Worte auszusprechen, aber nicht von Herzen zu vergeben.
Mir scheint es allerdings oft so zu sein, dass „Vergebung“ häufig von Menschen geradezu verlangt wird, die dann das Gefühl haben, jemandem (oder auch dem Schicksal) aus religiösen oder ethischen Gründen „verzeihen“ zu müssen. Jemandem aber von Herzen zu vergeben, ist eines der schwierigsten Dinge überhaupt und geht völlig gegen den Strich, ganz besonders wenn man noch immer wegen des Geschehenen wütend, tief enttäuscht oder gar ängstlich ist.
Das mag unter anderen daran liegen, dass der „Akt“ des Vergebens gar keine „Handlung“ im eigentlichen Sinne ist. Wenn man vergibt, dann geschieht das beinahe nebenbei, wenn wir den Ärger auf die oder den anderen loslassen, zusammen mit dem Bedürfnis nach Wiedergutmachung.
Webster’s New International Dictionary und das Oxford Dictionary of the English Language definieren beide das Verb „vergeben“ wie folgt: „den Wunsch nach Bestrafung sowie den Ärger über etwas aufgeben; aufhören, ärgerlich zu sein, verzeihen.“ Aus diesen Definitionen für Vergebung geht klar hervor, dass sie sich darauf beziehen, den Ärger, die Wut oder den Wunsch nach Rache loszulassen. Vergebung ist daher im Grunde genommen die Abwesenheit dieser negativen Gefühle.
Das macht es ein wenig schwierig, EFT zur Vergebung zu benutzen, denn es ist für die meisten Menschen schwieriger, etwas loszulassen als etwas festzuhalten. Wenn man zum Beispiel jemanden bittet, ein Buch auf den Tisch zu legen, wird diese Person in der Regel (jedenfalls wenn es keinen objektiven Grund gibt, dies nicht zu tun) der Bitte gerne nachkommen, denn sie wird lediglich aufgefordert, etwas Einfaches zu tun.
Wenn man aber dieselbe Person bittet, ein Buch „loszulassen“, das sie gerade hält, dann wird sie oft zögern oder gar ablehnen, zumindest bis sie über die Folgen nachgedacht hat. Sie wird mögliche Konsequenzen abwägen und erst danach entscheiden, ob es sicher und vorteilhaft für sie ist, das Buch einfach loszulassen (vielleicht fällt es ja auf den Boden und nimmt Schaden? Vielleicht dient die Bitte nur dazu, sie danach „anzumachen“ oder auf andere Weise zu beeinflussen? Usw.?) Das Ergebnis ist ganz klar, dass sie das Buch nur ungerne loslässt.
Ich muss auch daran denken, wie stark der Greifreflex bei Neugeborenen ist; sie können sich mit unglaublicher Kraft an einem Finger oder Gegenstand in ihrer Nähe festklammern und lassen sie oft lange nicht los – manchmal muss man sogar ihre kleinen Finger einen nach dem anderen lösen. Dieser Greifreflex hat vielleicht mit einem angeborenen Instinkt zu tun, der neugeborenen Menschen das Überleben sicherte, als wir noch in den Bäumen lebten. Man kann sich gut vorstellen, dass sich das Neugeborene unbedingt an die Mutter oder einen Zweig klammern können musste, um nicht in die Tiefe zu stürzen.
Warum auch immer, es ist jedenfalls eine Tatsache, dass wir leichter etwas festhalten als dass wir es loslassen. Da wir in unserer Sprache leben, neigen wir dazu, uns an die Erinnerungen von schlechte Erfahrungen klammern und uns offenbar auf lange Zeit nicht von den Gedanken an „Gerechtigkeit“ und „Bestrafung“ für derlei Geschehnisse lösen können. Wir halten an derartigen Gedanken lange Zeit fest, manchmal sogar ein Leben lang. Kein Wunder, dass wir Geschichten von Blutrache kennen, die über Generationen in bestimmten Gebieten weitergereicht wurde. Dort hat die „Rache“ dann tatsächlich die Kontrolle über das Leben der Menschen übernommen, die in sie verstrickt sind.
Wie aber können wir nun „Vergebung“ erlangen, wenn dies das „Loslassen“ von Ärger bedeutet, oder den Wunsch nach Rache aufzugeben, selbst mit EFT?
Da Vergebung etwas ist, dass sozusagen automatisch geschieht, wenn die Gefühle von Enttäuschung, Wut oder Rache sowie das Bedürfnis nach Bestrafung aufgelöst wurden, möchte ich eine Methode vorschlagen, wie man mit EFT diese Gefühle von Ärger und Enttäuschung sowie das Verlangen nach Bestrafung verringern oder auflösen kann. Auf diese Weise erzeugt man quasi den Status der Vergebung, der ja eigentlich die Abwesenheit eines Wunsches nach Rache ist.
Weil Menschen es so schwierig finden, Enttäuschung und Ärger sowie den Wunsch nach Wiedergutmachung aufzugeben, habe ich die Erfahrung gemacht, dass man dieses am besten auf eine indirekte Art angeht, Schritt für Schritt. Eine Methode ist, den Wunsch nach Rache in winzige, handhabbare Teile aufzuspalten. Ich nenne das die „Teile und herrsche“-Taktik. Dies ist der Hintergrund:
Nehmen wir einmal an, dass jemand von einer anderen Person in der Vergangenheit tief gekränkt wurde. Wenn man nun Person 1 bittet, der anderen Person zu „vergeben“, erscheint das am Anfang in der Regel unmöglich. Selbst wenn man ihn oder sie bittet, die Wut und Enttäuschung „loszulassen“, scheint das immer noch völlig unmöglich. Wie kann denn jemand, argumentieren sie, einfach die Wut und Enttäuschung über diese tiefe Kränkung loslassen, wenn man doch tief gekränkt wurde?
Um diese Sackgasse zu vermeiden, finde ich es überaus hilfreich, den Prozess des „Loslassens“ in kleine Stücke zu teilen, so dass man die Vorstellung (nämlich dass es unmöglich ist, Wut und Enttäuschung loszulassen) widerlegen kann. Tatsächlich erreicht man, dass man diese Gefühle in der Tat Stück für Stück loslassen kann – was natürlich den Weg dahin bereitet, noch viel mehr loszulassen.
So wird es gemacht:
Wenn man den Einstimmungssatz formuliert, sollte der zweite Teil als „Wahl“ formuliert werden, in der man beschließt, „1% der Wut und der Enttäuschung loszulassen“ (man kann sogar hinzufügen: „und den Rest zu behalten“, wenn man möchte). In der Realität kann ein Satz wie folgt aussehen:
Jemand würde den Einstimmungssatz vielleicht so formulieren: „Auch wenn ich stinkwütend bin weil „X“ das getan hat, beschließe ich, 1% meiner (Wut, Enttäuschung etc.) auf (sie/ihn) loszulassen.“
Wenn man die „1%-Lösung“ anwendet, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass man diesen lächerlich winzigen Teil der Wut und Enttäuschung loslassen kann – immerhin ist es ja nicht viel verlangt, 1% davon aufzugeben, und man darf ja auch den viel größeren Teil seiner Empörung behalten! Dennoch – und darin liegt das Geheimnis dieser Vorgehensweise – wenn man wirklich in der Lage ist, ein Prozent dieser Wut und Enttäuschung (Ärger und Wunsch nach Bestrafung etc.) loszulassen, dann befindet man sich plötzlich in einer ganz anderen Vorstellungswelt. Etwas, das vorher vollkommen unmöglich war, ist jetzt plötzlich möglich, wenn auch auf einem sehr geringen Niveau. Dadurch, dass man dies zulässt, ist jetzt auch die Chance vorhanden, alles loszulassen. Ein bisschen loslassen ist auch immer viel loszulassen. Man hat jetzt einen tiefsitzenden Glaubenssatz aufgegeben, nämlich die Gewissheit, unter keinen Umständen jemals diese Wut und Enttäuschung aufgeben zu können.
Ich habe oft beobachtet, dass diese einfache Methode (das Loslassen von nur 1% der Wut und Enttäuschung) dazu geführt hat, dass jemand von nun an die Möglichkeit sieht, all die Wut und Enttäuschung loszulassen. Sobald es überhaupt möglich erscheint, den Wunsch nach Rache aufzugeben, ist der Weg frei, um ihn auch tatsächlich aufzugeben. Wenn man sich von der Vorstellung verabschiedet, dass „um jeden Preis Gerechtigkeit geübt werden muss“ und dass jemand bestraft werden muss, damit man endlich Ruhe finden kann, dann kann man endlich Ruhe finden. Auf diese Weise entledigt man sich einer gewaltigen Last und kann endlich wieder konstruktiv sein Leben gestalten.
Man kann entscheiden, diesen anderen Menschen nie wieder sehen zu wollen, oder sich nie wieder in diese Art Situation zu begeben (oder aber man entscheidet sich bewusst dafür), aber jetzt endlich ist man frei, das zu wählen, was wirklich das Beste ist. Das ist möglich, weil die emotionale Spannung aus der Situation genommen wurde. In diesem Moment hat man der anderen Person „vergeben“, im wahren Sinn des Wortes. Das Bedürfnis nach Rache hat sich aufgelöst, und weil das „Nicht-Vergeben“ darauf beruhte, ist es ebenfalls verschwunden. Man hat der Person, dem Umstand oder dem Schicksal wirklich vergeben, und kann sich von nun an darauf konzentrieren, eine neue Beziehung oder eine bessere Beziehung aufzubauen, oder was man sich auch wünscht.
Ich kann diese „1%-Methode“ nur empfehlen, wenn man auf keine andere Weise vergeben kann.
Pat Carrington
(Übersetzt von Frauke Schindel – mit freundlicher Genehmigung – Danke)